„Wieviel Ungleichheit verträgt Demokratie?“?“
TAGUNGSDOKUMENTATION
„Wieviel Ungleichheit verträgt Demokratie?“
Wir befinden uns mitten in einem ereignisreichen Wahljahr, geprägt durch die EU-Wahl, die Nationalratswahl und die Steirische Landtagswahl. Die Wahlbeteiligung rückt dabei in den Mittelpunkt der Diskussion.
Bei der letzten Steirischen Landtagswahl 2019 hat mehr als ein Drittel (36,54%) der Wahlberechtigten nicht teilgenommen.
Internationale und nationale Forschungsergebnisse belegen, dass Wahlbeteiligung auch eine Frage verfügbarer Ressourcen ist und sich dementsprechend die Höhe des Einkommens und Vermögens, die Beschäftigungsart bzw. Arbeitslosigkeit, die formale Bildung sowie der gesellschaftliche Status auf politische Partizipation der Menschen auswirkt. Dies gilt für Wahlen sowie niederschwellige Beteiligungsformen wie z.B. Bürgerinitiativen.
Die Tagung „Wieviel Ungleichheit verträgt Demokratie“ setzte an den Forschungsergebnissen der beiden Keyspeakerinnen Tamara Ehs und Martina Zandonella über Wahlbeteiligung, soziale Ungleichheit und Partizipation an.
Gemeinsam stellten wir uns die Frage, ob bzw. wie weit sich Demokratie unter den oben genannten Bedingungen in einer Legitimitätskrise befindet und welche Formen der Partizipation über Wahlen hinweg die demokratische Mitbestimmung insbesondere einkommensschwacher Mitbürger*innen stärken können
„Wessen Demokratie? Repräsentationsarmut und Polarisierung“
Gleichheit ist das große Versprechen der Demokratie. Laut dem Soziologen Stephan Lessenich (Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem, 2019) beansprucht die Demokratie "das gleiche Recht aller Bürger auf Teilhabe an der kollektiven Gestaltung der sie gleichermaßen betreffenden gesellschaftlichen Lebensverhältnisse." Dieses gleiche Recht auf Teilhabe ist aber nicht nur formal zu verstehen. Es genügt dem demokratischen Anspruch nicht, dass Menschen mit gleichen Rechten ausgestattet sind, vielmehr müssen ebenso die Voraussetzungen zur Beteiligung gleich verteilt sein. Auch in Österreich zeigt sich, dass sozioökonomische Ungleichheit die Realisierung gleicher Teilhabe zusehends mindert oder gar verhindert. Die einstige "Befriedungswirkung des demokratischen Kapitalismus" (Veith Selk) lässt nach; angesichts der Krisenkaskade der vergangenen Jahre und der oftmals ungerechten Verteilung von Lasten, Gütern und Lebenschancen zur notwendigen sozialökologischen Transformation sinken Zufriedenheit und Vertrauen der Bevölkerung insbesondere gegenüber den Institutionen der repräsentativen Demokratie wie Parlament und Bundesregierung. Und tatsächlich verliert die österreichische Demokratie an Repräsentativität und Responsivität, was wiederum populistischen Vereinfachungen wie "die da unten" (Volk) gegen "die da oben" (Elite) und der polarisierenden Ausbeutung von "Triggerpunkten" (Steffen Mau et al.) Vorschub leistet.
Tamara Ehs geht in ihrem Vortrag den Auswirkungen von Ungleichheit mit folgenden Fragen nach: Wer ist überhaupt teilnahmeberechtigt? Wer nimmt an Wahlen teil? Wie wirken sich Schieflagen der Teilhabe auf Repräsentation und Responsivität aus? Welchen Einfluss hat Polarisierung auf die Partizipation? In Beantwortung dieser Fragen erläutert sie die demographische (alt/jung) und sozioökonomische (arm/reich) Schieflage unter den Wahlberechtigten, weist auf weltanschauliche und politische Konfliktlinien der Polarisierung hin und zeigt die Auswirkungen von Ungleichheit auf Repräsentation und Politikgestaltung auf.
Martina Zandonella
„Bürger:innen zweiter Klasse: Soziale Ungleichheit und Demokratie in Österreich“
Fragen wir die Menschen, was sie an der Demokratie gut finden, stehen Gleichheit und Mitbestimmung ganz oben auf der Liste: Egal wer wir sind oder was wir besitzen – in demokratischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen zählt jeder Mensch und jede Stimme gleich viel.
Die Erfahrungen, die die Menschen im unteren Einkommensdrittel mit Demokratie machen, sind jedoch gänzlich andere, denn ihren Alltag prägen der Ausschluss von ökonomischer Sicherheit, gesellschaftlicher Anerkennung und wirksamer politsicher Mitbestimmung. Dementsprechend gering fällt dann auch ihr Vertrauen in das politische System aus und ihre Motivation, sich zu beteiligen, sinkt kontinuierlich.
Damit sind wir also auch in Österreich auf dem Weg in eine „Zweidritteldemokratie“, in der das untere Einkommensdrittel immer weniger am demokratischen Prozess teilhat – entweder weil die Menschen keine wirksamen Beteiligungsrechte haben oder weil sie sich entlang ihrer Erfahrungen dazu entschieden haben, diese nicht (mehr) zu nutzen.
Wie genau diese Erfahrungen gestaltet sind, die unsere Gesellschaft dem unteren Einkommensdrittel zumutet und damit systematisch Ausschluss produziert, welche Folgen diese Entwicklungen mittel- und langfristig für die Demokratie haben und wo angesetzt werden kann, um die bestehende Repräsentationslücke zu schließen, berichtet und diskutiert der Vortrag.